Von der „Zusammenbruchsgesellschaft“

Gunzenhausen – Der Historische Verein für Mittelfranken hat seinen Band 27 der „Mittelfränkischen Studien“ herausgebracht, der sich der ländlichen Gesellschaft im Altlandkreis und der Stadt Dinkelsbühl von 1943-1948 zwischen Ende und Aufbruch widmet. Autorin ist die Historikerin Dr. Eva Karl, die am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München-Berlin die nationalsozialistische Diktatur wissenschaftlich angeht. Mit ihrer Dissertation „Zusammenbruch-Umbruch-Aufbruch“ hat sie 2016 das Geschichtsstudium an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg abgeschlossen. Derzeit arbeitet sie an einer Studie „Coburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Der vorliegende Band ist sehr umfangreich (618 Seiten). Er ist für 29.90 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-96049-093-7).

Foto: Werner Falk

Das Dinkelsbühler Land war zu Anfang des letzten Jahrhunderts ausgesprochen agrarisch (66 Prozent landwirtschaftlich orientiert) und protestantisch (84 Prozent gehörten der evangelisch-lutherischen Kirche an) geprägt. Die Autorin spricht von einer „Provinzgemeinschaft“. Zu ihr gehörte Wassertrüdingen (neben Dinkelsbühl das zweite städtische Zentrum) mit seinem Hesselberg-Umland.

Fakten, Ereignisse und Episoden werden von Eva Karl zuhauf genannt. Von dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld im ländlichen Westmittelfranken wissen nicht nur die Historiker, dass es für die NS-Propaganda besonders empfänglich war. Bei der entscheidenden Reichstagswahl 1933, die zur Machtergreifung Hitlers geführt hat, stimmten 71,5 Prozent der Landkreisbevölkerung für die NSDAP (in Bayern war es nur 43,9 Prozent und in Mittelfranken 51,6 Prozent). Zehn Tage nach dem hitlerschen Durchbruch legten die Dinkelsbühler dem „Führer“ die Ehrenbürgerschaft zu Füßen.

Gefährlich: Politische Witze

Wenn auch die Kriegszeiten nicht danach waren, Witze zu machen – vor allem politische – , so kursierte 1943 dieser: „Nächste Woche wird Fleisch billiger, denn dann werden all die Ochsen geschlachtet, die noch an den Sieg glauben“. Wie gefährlich es war, sich systemkritisch zu äußern, das erfuhr eine Wassertrüdingerin im Dezember 1944, als sie für die Aussage, es habe sich „ausgehitlert“, ein Jahr ins Gefängnis musste.

Dinkelsbühl als Lazarettstadt zu deklarieren (und somit vor feindlichen Angriffen zu schützen) schlug fehl. Deshalb kam es bei Luftangriffen 1943/44 sowie im Frühjahr 1945 zu Bombardements. In Wassertrüdingen wurden 90 Prozent Prozent der Gebäude beschädigt, darunter der Bahnhof . Es gab 400 Verletzte und einen Toten. Bei einem Tieffliegerangriff wurde am 8. April 1945 auch der Oberschwaninger Bürgermeister während einer Lkw-Fahrt getötet.

Von den 27000 Einwohnern des Landkreises im Jahr 1944 waren 3000 Zwangsarbeiter (davon 50 Prozent Frauen). Sie waren den fränkischen Familien zugewiesen und lebten in Lagern (bis 1957). In Dorfkemathen erzählt man sich heute noch, dass damals russische Kriegsgefangene Holzspielzeug bastelten und auf der Gugelmühle feierten 1943 Polen, Italiener und Franzosen gemeinsam Weihnachten. Für aufmüpfiges Verhalten, Raub oder Mord mussten die Gefangenen schwer büßen. Ein Exempel statuierten die Nazis beispielsweise an zwei geflohenen Ostarbeitern, die sich an beerenpflückende Frauen heranmachten und ihnen sowohl die Vesperbrote wie die gesammelten Beeren stahlen. Einer von ihnen wurde von der Gendarmerie an Ort und Stelle erschossen, weil er sich der Festnahme widersetzte. „Rassistisch unwürdige“ Ausländer, die mit deutschen Frauen Sexualkontakt hatten, landeten im Konzentrationslager und die Frauen wurden im Dorf öffentlich zur Schau gestellt.

4000 Paar Schuhe gehortet

Nach dem Krieg herrschte die Notwirtschaft überall. Tauschgeschäfte, Rationierung und Hamsterfahrten auf das Land gehörten zum Alltag. Ein Dinkelsbühler Schuhwarengeschäftsinhaber, der 4.000 Paar Schuhe hortete und sie somit der öffentlichen Zuteilung entzog, bekam vier Jahre Zuchthaus aufgebrummt. In der Zentralmolkerei und am Friedhof eingelagerte Stoffe und Schuhe, Bohnenkaffee und Lederwaren wurden nach dem Eintreffen der amerikanischen Besatzungstruppen verteilt, auch das Speiseöl, das in drei Kesselwagen und vier Waggons deponiert war.

Zu den prägendsten Gestalten der Zeit gehörte der Wassertrüdinger Bürgermeister Ernst Ittameier (ab 1928), der zugleich NSDAP-Kreisleiter war. Dass er dem am 1. März 1945 abgesprungenen Feindflieger Jack Nider Beckman keine menschliche Behandlung gewährte, das rächte sich später. Der deutsche Pilot hatte den Luftkampf über Dennenlohe und Unterschwaningen nicht überlebt. Ein Bauer fand ihn bei Kröttenbach. Der US-Kampfflieger indes wurde mit dem Spaten geschlagen und von Volkssturmführer Georg Eckstein von hinten erschossen. Ernst Ittameier indes gab sich zuweilen generös (sein Schwager und Assistent Karl Kattinger war weitaus gefürchteter) und stellte einige Bürger unter seinen persönlichen Schutz. Sogar der pensionierte Steueramtmann Ernst Richter, der mit einer Volljüdin verheiratet war, durfte sich mit ihn in der Öffentlichkeit zeigen.

Nazifreundliche „Deutsche Christen“

Eva Karl stellt fest: „Evangelische Frömmigkeit und völkischer Nationalismus bildeten in Franken eine Synthese“. Die protestantischen Pfarrer Georg Bräuninger in Königshofen und Karl Brunnacker in Mönchsroth sowie der Ehinger Friedrich Schemm waren bei den nazifreundlichen „Deutschen Christen“ engagiert. Der Kirchenkampf tobte auch auf dem Land: Der aus Döckingen stammende Brunnacker wurde von der Landeskirche seines Dienstes enthoben, weil er seinem Nachfolger den Zutritt zur Kirche verwehrte und gegen Landesbischof Hans Meiser agierte. Von Depressionen geplagt nahm sich Brunnacker 1934 das Leben. Bei den DC-Leuten galt er als Märtyrer und bei seiner Beerdigung auf dem heimatlichen Friedhof waren unter den rund 3000 Trauergästen auch der Nazi-Reichsbischof Müller und der stellvertretende fränkische Gauleiter Karl Holz. Zurückhalten mussten sich die Meiser- treuen Gottesmänner, um sich vor Nachstellungen zu schützen. Zu den Mutigen zählte der Unterschwaninger Pfarrer, der die Aussage des „Frankenführers“ Julius Streicher zurückwies, Hitler sei die „höchste Offenbarung“. Der Lentersheimer Pfarrer Karl Popp wehrte sich gegen die Abschaffung eines Feiertags und musste 100 Reichsmark berappen, weil er trotz Verbot weiterhin seinen Gottesdienst hielt.

Als sich in der Stadt und in den Landgemeinden die im Rückwärtsgang befindlichen Wehrmachtseinheiten einquartierten, wurde die meisten die ausweglose Lage bewusst. Dennenloher Frauen versorgten ein durchziehendes Kriegsgefangenenkommando mit Essen. In Dinkelsbühl verhinderten die Schutzzeichen entsprechend der Genfer Konvention und ein geschicktes Verhalten von Apotheker Dr. Fritz Schmidt (zugleich Schutzbezirkskommandeur) die Bombardierung der Stadt. Die SS gab jedenfalls ihren Plan auf, die Stadt zu verteidigen und verschanzte sich sieben Kilometer vor der Stadt. Erleichterung für die Zivilbevölkerung: Am 20. April 1945 läuteten die Glocken – zu Hitlers Geburtstag und zugleich zur Ankunft der US-Besatzer. Der Ortsgruppenleiter von Dinkelsbühl vernichtete alle Akten und flüchtete, im Keller der „Goldenen Gans“ agierte notgedrungen die Stadtverwaltung. Ein weißes Fahnenmeer motivierte die Amerikaner, auf dem Marktplatz ein Feuer zu entfachen und ausgiebig zu zechen. Aber in Lehengütigen, Zwernberg und Oberradach meinten die letzten Wehrmachtssoldaten, die US-Armee aufhalten zu können, doch sie wurden aus der Luft angegriffen. Dorfkemathen galt als ein Nazidorf. Dort schoss ein evakuierter Saarländer vom Schulhaus aus auf die anrückenden Feinde. Im Gegenfeuer starben drei Menschen und Gebäude wurden in Brand gesetzt. Beachtlich: Französische Zwangsarbeiter konnte die Amerikaner davon abhalten, weitere Zerstörungen vorzunehmen. Und wieder waren Frauen unter den Mutigen: In Beyerberg zersägten sie die Panzersperren und gingen im Zorn auf den Volkssturmführer los.

Parteibücher vergraben

Bis Ende April waren alle Ortschaften von den Besatzern eingenommen. In Wassertrüdingen führte der älteste Stadtrat Konrad Stettenfeld die Verhandlungen mit den US-Offizieren. Die Menschen entledigten sich der Nazi-Vergangenheit und ihrer Embleme, vergruben Parteibücher und Wertgegenstände. Ein Zehnjähriger kam ums Leben, als er mit Waffen spielte und im Dinkelsbühler Rathaus starben sieben Burschen, als es beim Sortieren abgelieferter Waffen eine Explosion gab. Zu den Besatzungsgeschichten zählt auch die Klage des Weidelbacher Pfarrers: „Deutsche Frauen und Mädchen werfen sich für lumpige Zigaretten und Schokolade würdelos dem Feind hin, sogar den schwarzen Amerikanern“.

Die folgende Entnazifizierung (zunächst durch die Amerikaner, dann durch deutsche Behörden) bot im ganzen Land Gelegenheit zu persönlichen Rachefeldzügen. Die Denunziation zeigte eine „hässliche Blüte“, wie Dekan Greiner bemerkte. Die einstigen lokalen Herrscher hatten sich zu verantworten – oder sie entzogen sich der Gerichtsbarkeit durch Freitod , so der Dinkelsbühler SA-Obersturmführer Andreas Strebel, der sich im örtlichen Gefängnis erhängte. Kreisleiter Ernst Ittameier hatte sich zunächst im Oettinger Forst versteckt, wurde aber aufgegriffen und verhaftet. Ihm konnte später ein Kriegsverbrechen gegen den kanadischen Kampflieger nachgewiesen werden, so dass er am 5. November 1948 in Landsberg hingerichtet wurde. Sein Assistent Karl Kattinger tötete im August seine Frau, seine beiden Kinder und sich selbst.

Bei den Spruchkammerverfahren ging es um 136 „nazistische Tätigkeiten“. Wegen falscher Angaben musste sich vor den amerikanischen Entnazifizierern auch Baron Ludwig von Süßkind verantworten. Später übernahmen deutsche Spruchkammern die Verfahren. Es gab die sogenannten Persilscheine, u.a. für einen Dinkelsbühler Arbeitgeber, der von einem Mitarbeiter bei der Gestapo angezeigt worden war, der aber später nichts mehr davon wissen wollte. Zudem kam der US-Militärgouverneur Robert Waley 1948 zur Ansicht, dass ein Großteil der Unverbesserlichen nicht vom demokratischen System überzeugt ist und weiterhin an die prinzipielle Richtigkeit des Nationalsozialismus glaubt.

Im Kreis gab es 11.500 Flüchtlinge und Evakuierte

11500 Evakuierte und Flüchtlinge waren bei Kriegsende im Kreis Dinkelsbühl registriert. Die Bevölkerung stand ihrer Aufnahme und Einquartierung betont reserviert gegenüber und übte sich zuweilen in sozialer Deklassierung: „Die sollen heim, wer weiß, was sie ausgefressen haben.“ Damals hielten sich an die 6000 „Displaced Persons“ (DP) – vorwiegend Russen und Polen – in den Landkreisen Dinkelsbühl und Feuchtwangen auf, also Zivilisten, die infolge des Kriegs außerhalb ihrer Heimat leben mussten. Manche von ihnen wähnten sich als Befreier und wollten an der Feindnation Rache nehmen. In Beyerberg drangen polnische DPs in ein Haus ein, raubten den Besitzer und seine Tochter aus und stachen sie nieder.

Wie die Statistik besagt, leben im Jahr 1948 genau 11.930 Flüchtlinge und Vertriebene im Landkreis, allein 5682 Sudetendeutsche. Das waren 22 Prozent der Wohnbevölkerung. 35 Prozent hausten in Flüchtlingslagern, beispielsweise in Voggendorf, wo zeitweise 1.044 in einem eigens errichteten Barackendorf lebten. Viele kleine Orte waren mit der Flüchtlingsaufnahme überfordert, so beispielsweise Dennenlohe, wo unter den 224 Einwohnern die 144 Einheimischen die Minderheit darstellten. Von den Neubürgern kamen Schilderung der Autorin Eva Karl rund 60 Prozent mit ihren Verhältnissen zurecht, 40 Prozent waren krank und mittellos. Viele hatten alles verloren. Sie trafen auf Einheimische, die nichts verloren hatten. Dennoch war von den Bauern zu hören: „Alle wollen essen, schimpfen aber auf die Bauern“. Die Habenichtse galten unter den Einheimischen nicht als Volksgenossen, sondern als Fremde. Wer sich den Besatzer-Anweisungen hinsichtlich der Einquartierung widersetzte, der spürte dies am eigenen Leib. So zum Beispiel musste der Weiltinger Apotheker für ein Jahr ins Zuchthaus.

Korruptionswirtschaft in der Notzeit

Natürlich griff in der argen Notzeit auf dem Lande die Versorgungskriminalität um sich. Ein Dinkelsbühler Lokführer, der mit 29 anderen in seiner Wohnung „schwarz“ schlachtete, musste für dreieinhalb Jahres ins Zuchthaus und obendrein noch 5.000 Euro Reichsmarkt bezahlen. Die Hamsterer aus Nürnberg, Fürth oder Augsburg wurden als Bedrohung empfunden. Tauschgeschäfte waren an der Tagesordnung („Geige gegen Wintermantel“), weshalb Landrat Gehring 1948 resigniert feststellen musste, dass die Korruptionswirtschaft „auf der ganzen Linie gesiegt hat“.

Dinkelsbühl, das mittelalterliche Juwel, hatte noch Glück, dass nur 2,2 Prozent der Wohnungen im Krieg zerstört wurden. Das war zugleich der geringste Zerstörungsgrad unter den mittelfränkischen Städten (Nürnberg: 50 Prozent). Ab 1947 waren die deutschen Kreiswohnungsämter für die Verteilung zuständig. In den Dörfern ging der Bürgermeister von Haus zu Haus. Kreisflüchtlingskommissar Goos war ein verständnisvoller Mann: „Die gute Stube zur Unterbringung von Flüchtlingen ist wichtiger, als dass sie im Lauf der Zeit von Motten zerfressen wird.“ Er schickte eine Familie, die sich weigerte, für sechs Monate in ein Flüchtlingslager und eine Bäuerin für drei Monate ins Gefängnis, die einem Flüchtling ein kleineres Zimmer zuwies als dies der Kommissar verfügt hatte. Die Wohnungsnot war frappierend, in der kleinen Gemeinde Zwernberg kamen im Durchschnitt 3,9 Personen auf ein Zimmer. „Die Bevölkerung ist apathisch gegenüber den Zwangsmaßnahmen des demokratischen Staats“, konstatierte der enttäuschte Landrat Pezold.

Mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 füllten sich wieder die Schaufenster und das Kopfgeld von 60 DM versetzte die Menschen in einem „Kauftaumel“. Die Vertriebenen aus dem Sudetenland erwiesen sich als findige Geschäftsleute. Es formierten sich 228 Flüchtlingsbetriebe, von denen nur zwölf mehr als fünf Mitarbeiter hatten. Sie stellten 49 Prozent der Gesamtbetriebe im Kreis. Auch im kommunalpolitischen Erwachen meldeten sich die Neubürger zu Wort und kamen bei der ersten Kreistagswahl auf 6,7 Prozent („Union der Ausgewiesenen und Entrechteten“). In einigen Gemeinden setzten sich die neuen Gemeinderäte 50:50 zusammen (Ehingen, Gerolfingen, Veitsweiler, Dürrwangen). Von den neuen (und vielfach alten) 64 Bürgermeistern waren 51 Bauern. Aus Politikverdrossenheit wollten sich viele Männer in den Dörfern nicht engagieren, Frauen spielten diesbezüglich ohnehin noch keine Rolle.

Quelle und Bilder: Werner Falk

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