Gastbeitrag: Buchstabenbesuch!

Gunzenhausen – Eingerahmt mit teilweise eingeschränktem Besuchsverbot steht Advent 2020 vor der Tür. Passend zur aktuellen Vorweihnachtszeit unter Corona-Bedingungen hat uns die Gunzenhäuser Autorin  Christa Milke die nachfolgende Geschichte zugesandt:

Papierstern (Foto Christa Milke)

Mittig in der Stadt, in einem bekannten, gut geführten Altersheim, lebt unter weiteren Bewohnern ebenso ein 92 jähriger Mann. Vor wenigen Monaten fuhr er noch Auto, pflückte sich seine Früchte aus dem Garten. für alles, was das Leben ihm schenkte, ist er dankbar. Zur Entspannung saß er gern auf einem seiner Gartenstühle unter einem Obstbaum vor seinem vertrautem Haus. Zufrieden mit Enkeln und Kinder. Seine Stirn legt sich in Falten. Er spürt seine Kräfte lassen nach. Mit gemischten Gefühlen kämpft er. Zunehmend lehrt ihm das Unbehagen mehr loszulassen. Hat er nicht schon losgelassen? Ist ihm nicht erst seine Frau verstorben? Ja! Ihn zwingt die Realität.

Ein neuer Zeitabschnitt ist ungewollt angebrochen. Schmerz, Verlassenheit, Erinnerungen, Dankbarkeit, Einsamkeit, alte und neue Eindrücke fahren im Wechselmodus Achterbahn in seinem Herzen. Leicht lässt sich nichts mehr alles richtig einordnen, noch zeitgemäß einbinden. Der Zustand gaukelt ihm die vielen Jahre vor, als sei dies gestern geschehen. Er versorgte sich selbst. Er fuhr selbstständig zum Einkaufen, sein Haus hat er sauber gehalten. Er pflegte und verköstigte täglich seine 92 jährige Frau mit seinen 91 Jahren, bis zu ihrem Lebensende. Das Resultat, es raubte ihm die letzten Reserven seiner Energie. Der Friedhofbesuch wurde sein tägliches Ritual, das hat er seiner Lebensgefährtin versprochen. Auf der Bank vor ihrem Grab kann er in der Stille alles überdenken, in dem Herzen mit ihr kommunizieren. Das fördert wenigstens die Einsamkeit zu brechen. Die Zeit verwandelte seine Kinder selbst zu Großeltern. Sie besuchten ihn, kümmerten sich um seine Belange.

Die Zukunft lässt seine Sinne zusammenschnüren. Die Nachrichten noch mehr. Er fürchtet ohne seine Angehörigen abzuleben. In einem wenig möblierten Zimmer keine Aussicht zur Straße, wo das Leben noch boomt, sitzt er Tag um Tag in seinem Sessel oder auf dem Stuhl vor dem Tisch. Anfangs konnte er lange Fernsehen, das wurde ihm bald überdrüssig, durch das Einerlei. Ihm fehlt sein Garten, das Nachbargespräch, seine Freiheit. Bedrückt muss er sich eingestehen, viele Dinge sind nicht mehr leicht zu bewältigen. Das Laufen stellte sich beschwerlicher ein. Er muss Vorsicht walten lassen, dass er nicht fällt. Die neuen Ver- und Gebote sitzen ihm beißend im Nacken. Trotzdem unterordnet er sich der neuen Situation.

Lockdown, Besuchskürzung drückt die Freiheit erneut im Altersheim, das schürt Traurigkeit. Er respektiert jedoch diese Sicherheit wegen Covid 19. Er wartet, wöchentlich auf seine Angehörigen, alleine hat er keinen Ausgang. Sie kommen fast regelmäßig vierzehntägig, abwechselnd im Rhythmus. Vor ca. vier Wochen durfte er noch vier Stunden aus dem Heim sich bewegen. Jetzt steht ihm nur eine Stunde zur Verfügung. Zu kurz für einen Besuch am Friedhof. Mit der Autofahrt dorthin sind im Nu 17 Min. vorbei. Zum Grab seiner Frau vergehen ca. 8 Min. Seine Beine lassen keinen schnellen Lauf mehr zu. Ein paar Minuten wünscht er sich doch am Grab zu verweilen. Somit sind 25 bis 35 Min schnell abgelaufen. Um den selbstgebackenen Kuchen seiner Kinder im kleinen Kreis zu genießen, sein leeres Haus zu begrüßen fehlt ebenso Zeit. Ein Hemd oder Hose kann er nicht aus dem Schrank dort entnehmen. Er muss wieder ins Heim zurück. Das schneidet ihm ins Herz. Er zeigt es nicht. Er darf nicht klagen, wird er doch gut versorgt.

Die Schwestern und Helfer sind hier sofort zur Stelle. All das bedrückt seine Kinder mit. Wenn Vater nur ein leicht bedienungsfreundliches Handy mit Videoanruf hätte, um uns Angehörige bildlich, nah bei sich zu haben, das könnte den Zustand mildern. Das müsste Standard in jedem Zimmer sein. Eine feine Sache wäre das. Eine der Töchter denkt, wenn Kontaktbeschränkungen aus Sicherheitsgründen in der Adventszeit grassiert, muss eine Idee, eine Lösung her, um die Zeit wohlwollend zu erwärmen. Reden ist bekanntlich zu riskant. Da benötigt man Mund und Nasenschutz. Still reden ohne Risiko funktioniert mit den Augen. Das ist eine Aussicht, um die hilflose Verlorenheit auszubremsen, Buchstaben reden zu lassen.

Buchstaben auf’s Papier setzen?…Genau…das ist es! Eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Seele zu streicheln, zu wärmen, im Gedenken aneinander zu verbinden. Sich mit dem innerem Auge zu umarmen. Kurz um, gedacht…getan…farbiges Papier wird zu kleinen Briefumschlägen geschnitten und geklebt. Mit hübschen Weihnachtsmotiven auf der Vorderseite bestückt, noch mit Nummern versehen. Kleine Briefe sollen die Weihnachtszeit im Dezember angenehm erweitern.24 Geschichten die tiefe, wertvolle Spuren hinterlassen, werde ich auf kleine Zettelchen schreiben, sagt sich die Tochter. Die letzte Zeile jeder Geschichte sollte eine Krönung ausweisen mit dem Wort „Danke“ und damit enden. Ihre Überlegung nimmt sie als geglückt an. Mit jedem Brief soll Vater gestärkt, lebensfroh in Erinnerung schwelen. Sein Selbstbewusstsein aufstehen dürfen. Sein Alter versinken und sein Lächeln erneut angestupst werden, dass es leuchtend lebt. Seine Neugier wachsen und erwartungsvoll auf den nächsten Tag hin fiebern. Eine Zusammenkunft der Seelen neuer Art wird es sein. Ein nahes Zusammentreffen im Gedächtnisform trotz Entfernung. Eine Zweisamkeit, die das Alleinsein abschwächt, dabei tiefgründige Berührungen im Lesen schafft. Mit dem täglichen symbolischen Buchstabenbesuch aus Briefen des Dankes wird noch ein hohes Wertgefühl mit eingebracht.

Ein Weihnachtskalender ungewöhnlicher Art. Dieser vermittelt zusätzliche Freude und die Freude entzündet leuchtend ein Lichtermeer im Advent. Ein Buchstabenbesuch lässt sich jederzeit schenken. Er benötigt wenig Geld. Jedoch erfordert er Zeitaufwand. Sie bekommt immer mehr Lust. Mit ungewöhnlichem Eifer schreibt und schreibt sie einen kleinen Brief nach dem anderen. Lieber Vater, wie du mich kennst schmeckt mir kein Weihnachtsstollen. Mutter stellte damals, ich war noch ein Kind einen Teller mit dem Stück unbeliebten Weihnachtsstollen vor mich auf den Tisch, mit der Anmerkung, „das wird aufgegessen.“ Mir fiel das Kinn runter und war innerlich bockig. Plötzlich klingelte das Haustelefon im Flur und Mutter ging ran. Ohne Ankündigung, Vater, stopftest du mein großes Weihnachtsstollen-Stück schnell in deinen Mund und verschlangst es. Dabei brachtest du mir als Alternative ein Stück Brot. Vielen Dank Vater.

Ein weiterer Brief ist lesebereit. Vater erinnerst du dich noch, einmal nahmst du uns drei Kinder zum Einkaufen mit. Es sollte ein Weihnachtsgeschenk für Mutter besorgt werden. Bitterkalt war es an diesem Tag der Gehweg mit gefrorenem Schnee bedeckt. Bei jedem Schritt knirschte, krachte laut die unebene Schicht unter unseren Schuhsohlen. Angekommen im Schuhgeschäft suchten wir ein paar Schuhe für Mutter aus. Wir waren stolz für das Mitspracherecht. Am Ende sagtest du, dass ja niemand von euch der Mama verrät, dass wir ihr Schuhe zu Weihnachten gekauft haben. Mit hoher Beteuerung bestärkten wir unser Versprechen. Zu Hause angekommen rannte die Jüngste in die Küche in Mutters Arme. Als du Vater nachkamst sagte sie :“ Mama“ sag ihnen, dass ich dir nichts verraten habe, dass wir dir Schuhe kauften. Wir lachten, die Kleine wusste nicht warum. Danke Vater für deinen Humor, du hast es wieder ausgebügelt. Der nächste Brief liest sich voller Freude. Du hast Vater eine spannende Zeit vor Weihnachten eingeräumt. Es roch nach Farbe, wir fanden Holzspäne. Die Neugier wurde immer gewaltiger. Letztendlich war dies für mich eine wunderschöne Puppenstube mit Fenster und Gardinen, noch eine Zwischen-Türe zu den Räumen .Mit getreu nachgemachten Möbeln der damaligen Zeit. Küchenbüffet mit kleinen Schub und Türchen. Tisch mit Schublade an der längeren Seitenkannte und richtige Stühle, ein Puppenherd aus Blech, darauf sich mit echtem Feuer kochen ließ. Sogar eine  Lampe über den Tisch die man mit einem Schalter an und aus knipsen konnte. Ein Schlafzimmer mit Lampen an der Seite und an der Decke. Betten mit Matratzen und Bettzeug, Schlafzimmerschrank mit Türen zum öffnen und Nachtschränkchen mit Schub ausgestattet. Was hattest du Vater da für Arbeit geleistet. Deine Liebe spiegelt sich daraus. Meine Schwester bekam einen Kaufladen mit einer Puppenstubenwand voll Regalen teilweise mit Schub. Davor erstreckte sich eine lange Theke, die rückseitig mit Regalen versehen war. Eine riesige Überraschung hast du uns bereitet. Danke Vater. Sie überprüft den nächsten Brief, bevor sie ihn für das Kuvert faltet. Ja diese Geschichte ist darauf dokumentiert, als Vater nach einer Dienstreise uns am Morgen mit einem Schokoladenmaikäfer auf der Bettdecke vor’s Kinn überraschte. Das ist ihm gelungen. Sie liest und liest jede einzelne Geschichte. Lieber Vater, du gingst im Sommer nach der Arbeit gerne mit uns ins Freibad, das bis 22 Uhr geöffnet hatte. Wir tobten uns bis zur letzten Stunde mit noch ein paar Mitstreitern mit Wasserball, Tischtennis aus. Schwammen und neckten uns gegenseitig. Danke Vater, für diesen Spaß. Nr.16 wird gefüllt mit dem Briefchen. Du Vater hattest deine Zustimmung zu meiner Auswahl des modernen Hochzeitskleides bekräftigt, obwohl Mutter mich lieber in einem Spitzenkleid gesehen hätte. Das nächste Brieflein erweckt zum schmunzeln. Vater ich naschte gerne Nüsse, wie du ebenfalls. Immer wieder schlich ich in die Speis und griff mehrmals in die Nusspackung. Uff, die Packung war leer. Ich beichtete es dir du drücktest mir Geld in meine Hand mit der Aufforderung, kauf dir im Laden eine neue Packung. Stell diese in die Speis. Danke Vater dass du immer wieder mal ein Auge zudrückt hast.

Die nächsten Zeilen an Vater waren die Worte, Reparaturen sind kein Latein für dich gewesen, du konntest alles kitten. Das Ereignis mit dem Schlittenfahren stand ebenfalls in Erwähnung. Da wurden uns selbstgestrickte Pullis, Jacken zwiebelmäßig übergezogen. Damals besaßen wir noch keine Anoraks. Mutter zog uns noch lange, weiße Unterhosen Vater von dir an. Die langen Beine wurden hoch gestülpt. Die letzte Hose bedeckte zum Glück alles. Den Hals mit dickem Schal umwickelt, so stapften wir eine Stunde durch Schneeverwehungen zur Rodelbahn. Die wollenen Handschuhe wurden nass und matschig darauf froren kleine filzige Schneetupfen. Wir hatten mächtig Spaß, mit dir Vater. Auf dem Nachhauseweg zogst du uns mit dem Schlitten heim, wir waren müde. Im Frühjahr schnitztest du Wasserräder aus kleinen Ästen und befestigst diese in dem sprudelnden Frühjahrs-Bächlein. Danke für dieses Naturerlebnis.

Sie flog im Lesen der 24 Briefchen mit dem erlebten Geschichten fort. Sie liest, Vater mit 90 Jahren hast du uns ein Treppengeländer als Überraschung zur Sicherheit auf der Terrassentreppe angebaut. Danke Vater. Immer mehr tauchen wunderbare Geschichten ans Licht die gelesen sein wollen. Danke Vater für deine Ausdauer, für deine Geduld bei dem Ein mal eins lernen, bei den Diktaten die wir übten. Bei schweren Rechenaufgaben schafftest du mit Hilfsmitteln, Anschauungsmaterial Erleichterungen. Danke! Du wagtest dich mutig an die Näherei, die wir nicht hinbekamen. Danke! Eine Wohnung für uns bautes du aus. Danke! In deiner Ordnung warst du Vorbild. Fahrer, Beschützer, Berater all das las man in den nächsten Briefen. Bei einer Festlichkeit bemerkten wir das fehlende Blumensträußchen. Du ranntest so schnell deine Füße konnten nach Hause, vier Stockwerke hoch in die Wohnung und hast es noch zur richtigen Zeit geschafft, Wow Vater! Danke!

Zufrieden steckt die Tochter des 92jährigen Herrn alle fertigen Briefumschläge mit dem Geschriebenen in ein nettes Säckchen. Dabei bewegte sich in ihr ein neuer Gedanke, damit könnte sie für Freundinnen, die innig mit ihr verbunden sind, ebenfalls Freude vermitteln. Ein Dankeschön Weihnachtskalender mit den Briefchen der Erinnerung bestückt noch individuell auf die Person zugeschnitten schenken. Sie macht sich ans Werk. So nun ist sie mit dem weiteren Kalender fertig geworden. Advent ist angekommen. Kerzen bringen den romantischen Flair. Fast 170 Briefumschläge liegen abgezählt zu 24 verteilt in weißen Schalen mit etwas Tannengrün und kleinen Nugatwürfeln bei den ausgewählten Beschenkten.

Es fließen Tränen der Rührung, da die Augen lesen, wie schön, dass es dich gibt. Klasse, dass wir uns kennen. Wunderbar, dass wir uns auf dieser Erde begegnet sind. Du bist ein Engel für mich. Schön, dass es dich gibt. Ein Hoffnungssatz ein Trostzuspruch, der die Seele aufbaut, hat die Beschenkende noch zusätzlich in jedes Kuvert dazugelegt. Ihr Vater liest die kleinen Briefe Tag für Tag und ergötzt sich an den früheren Erlebnissen, die ihn jung fühlen lassen. Sein Herz badet in dieser Erinnerungsliebe. Und der tägliche Hoffnungs-Trostsatz lässt ihn nicht verzweifeln. Wohlbefinden wächst durch den Buchstabenbesuch in der Adventszeit. 2020.

Quelle: Christa Milke – Gunzenhausen

3 Kommentare

  1. Eine wunderschöne und Geschichte!
    Eine Bereicherung in der Adventszeit, auch wenn diese Geschichte von 2020 ist. Wundervoll erzählt !
    Danke liebe Christa Milke!

    Gottes reichen Segen!

  2. Eine wunderschöne Geschichte! Danke Christa Milke!
    Es ist eine Bereicherung in der Adventszeit, auch wenn es bereits ein Jahr zurück liegt! Eine berührende Geschichte, wundervoll erzählt!

    Gottes Segen!

  3. Diese Liebe Autorin hat sich liebevoll um ihren Vater von Anfang bis zum Ende gekümmert und er war sehr dankbar dafür. Sie hat sehr viel Zeit mit ihm verbracht und telefoniert mehr als jeder andere. Wenn du meinst das man sowas öffentlich klären sollte , finde ich das ganz schön kindisch, außerdem sind das keine erfundenen Geschichten es gab genügend Leute wo es mitbekommen haben wie es war.

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